Fluchend stürmte Anna aus dem Zimmer. Wie konnte sie nur? Wie konnte ihre eigene Schwester sie nur verlassen? Immer konnten sie aufeinander zählen und sie verschwindet einfach, um sich einer Truppe anzuschließen. Nur wegen Gilneas, nur wegen dieser zerstörten, verlorenen Stadt, dessen Straßen nach Verwesung und Scheiße stanken. Diese Stadt ist kein Selbstmordkommando wert.
Wütend trat das Mädchen durch den auf der Rückseite befindlichen Eingang in das Hinterzimmer der Taverne. Wohl die Menschen, die hier herumliefen, um sich auf den Dienst im Schankraum vorzubereiten, übersehend, stolzierte sie an den Gastwirt und Besitzer der Taverne vorbei. „He‘, wo ist sie?“
Mürrisch setze sich das Mädchen an ihren Tisch, auf welchem allerlei Schmuck und vereinzelte Kleidungsstücke durcheinanderlagen. „Louanne kommt nicht“, entgegnete sie nur trocken, während sie sich an dem Verschluss ihres Ohrrings zu schaffen machte.
„Wie jetzt?“, murrte der Wirt. „Ich bezahl‘ sie dafür! Hol‘ deine Schwester gefälligst aus ihrem Zimmer.“
Ruckartig drehte sich das Mädchen zu ihrem Arbeitgeber um. „Ich sagte, sie kommt nicht! Wenn ich jetzt zurückgehe, ist sie schon längst fort. Verstehst du?!“
Langsam zog der Wirt die Brauen zusammen, bevor er seine Augen verengte. „Wenn sie nicht rausgeht, wirst du es tun.“
„Was?“
„Du hast mich schon verstanden.“
„Meine Schicht ist seit einer halben Stunde vorbei.“
„Ist mir scheißegal“, der Wirt trat auf das wesentlich kleinere Mädchen zu. „Wenn sie weg ist, springst du für sie ein.“ Abschätzend musterte der Wirt die Kleidung des vor ihm sitzenden Mädchen. „Und zieh‘ dir was anderes an. Die Kleidung kennen sie schon. Und mach‘ hinne!“ Der Wirt drehte sich um, um die Tür zum Schankraum zusammen.
„Ich will mehr Geld für die nächste Schicht!“
Der Wirt machte, halb in der Tür stehend, ein verächtliches Geräusch. „Kannste knicken, Anna. Beweg‘ dich!“
Wütend drehte sich Anna wieder ihrem Tisch zu und fegte mit einer Bewegung eine Ladung Kleidung und Schmuckstücke auf den Boden. Sie fuhr sich mit beiden Händen durch ihr blondes, glattes Haar, bevor sie ihr Gesicht in diesen vergrub. Ihrem inneren Verlangen zu schreiben, gab sie nicht nach. Stattdessen sammelte sie sich, suchte sich ein neues Outfit zusammen und trat in den Schankraum.
***
Der Gastraum und die darin befindlichen Gäste verschwammen vor ihren Augen, bis sie alles gänzlich ausblendet. Ihre Hände bewegten sich grazil in die Höhe, während sich ihren Hüften leicht bewegten. Die Musik wanderte in ihre Ohren, in ihren Körper, in ihr Herz. Sie packte sie, sie wurde eins mit ihr und führte sie in eine Sphäre fern ab von all dem. Dem Gasthaus, dem Wirt, den Trinkenden und Betrunkenen, den Straßen und Häusern, dem Lärm und Rauch. Sie zog sie zu sich, wie ein Liebhaber, hüllte sie ein, wie der Duft einer Blumenwiese. Sie sah nichts mehr, sie sah nur noch den dunklen Nachthimmel und die Sterne. Sie hörte die Musik, fühlte sie. Sie war allein. Ruhe. Kein Gastwirt, der ihre Bezahlung auf ein Minimum hielt, keine Schwester, die sie verließ. Sie öffnete die Augen und sah plötzlich den Gastraum vor sich und die darin befindlichen Gäste. Das war ihr noch nie passiert. Nie hatte die Musik sie mal einen Moment losgelassen. Sie hielt inne. Ein Gast begann sich zu lautstark zu beschweren. Doch anstatt weiter zu tanzen, verließ Anna ihr Plateau. Weitere Gästen stimmten dem Unmut bei. Die Stimmen wurden lauter; so laut, dass sie die Musik übertönten. Schnellen Schrittes verließ Anna den Gastraum und sammelte ihre Sachen im Hinterzimmer zusammen.
Wutentbrannt kam der Gastwirt ins Hinterzimmer gedonnert. „Anna! Was soll der Scheiß?!“
„Ich kündige“, warf das Mädchen dem Wirt trocken entgegen.
„Was?“
Anna nahm ihre Ohrringe ab und warf sie dem Wirt gegen die Brust. Ihr Blick bohrte sich für einen kurzen Moment in seinen. „Ich… kündige“, sprach sie.
„Nen Scheiß wirst du. Du brauchst das Geld!“
„Das bekomm‘ ich auch woanders. Schönes Leben noch“, rief Anna auf dem Weg nach draußen und ließ den Wirt mit offenem Mund stehen.
[Erledigt] Von Musik, Gold und Sternen
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