Laut und schwer schlägt die Kirchenuhr über die verregnete Stadt hinaus. Kaltenbrunn um sechs Uhr in der Früh.
Der erste Schlag der Hellste, der Klarste. Thomas sieht zum Himmel hoch, granitgraue, dichte - erdrückend dicke - Wolken unterm nächtlichen Firmament. Darunter schwarze Rauchsäulen, die wie fette, wulstige Maden feist und satt dem Regenprasseln entgegensteigen. Gelboranges Züngeln kläglicher, sterbender Flammen spiegelt sich in den Wasserpfützen am rissigen Strassenrand. Niedergerittenes, zertrampeltes Unkraut zwischen den nassen Pflastersteinen. Hinter ihm brennt ein halbes Dutzend Häuser. Selbst der strömende Regen weiss die Feuer nur im Ansatz zu bändigen.
Der zweite Schlag dröhnt dem Ersten nach, hallt mit und lässt in der Ferne einen Hahn krähn. Neben ihm ein ohrenbetäubend lauter Schuss, und doch so dumpf, so gedämpft, wie Meilen unterm Meer. Er weiss nicht, wer sie verraten hat. Irgendwer musste den Wachen den Hinweis gegeben haben. Sonst hätt man sie nicht schnappen können - dann wären sie nun nicht auf Knien auf der Strasse. Doch konnten sie die Feuer noch früh genug legen. Er hört das Knistern der Flammen, das Krachen von verkohltem Gebälk, und das Zischen des verdampfenden Regens hinter sich. Es ist vollbracht. Doch zu welchem Preis.
Der dritte Schlag lässt ihn zittern. Die schäbige Lederkluft vom Regennass durchweicht, bis auf die Knochen friert und schlottert er. Blanke Ironie, mit all den lodernden Flammen, brennenden Häusern, im Rücken. Eine reiche Strasse im reichsten Viertel einer einst reichen Stadt. Regierungsapparat, Rathaus, das Heim von Politikern und Ratsherren. Sie wollten ihnen beweisen, ihnen zeigen, dass sie nicht so unantastbar sind, nicht über alles erhaben, wie sie sich nur allzu oft einbilden. Funkenstiebend weht ein Fetzen schwarz-weissen Banners durch den kalten Nachtwind. Halb angesengt, erstarren die orangeglühenden Löcher noch im Flug durch Regenprasseln. Reste der schwarzen Schlange drauf zu sehn.
Der vierte Schlag der Wuchtigste, bis in Mark und Bein dröhnt das schwere Geläut aus hoher Höh. Wie Totenglocken schallt die Turmuhr über die finstre Szenerie hinweg. Der Bannerfetzen klatscht in eine schwarzglänzende Regenpfütze. Die Schlange, die feigen Verräter, die zu stürzen es gilt, ertränkt. Und mit ihr Arthur - dessen aufgesprungener Kopf neben Thomas zu Boden kracht. Dickes, schweres Blut, dass sich mit farblosem, leichtem Regen mischt. Sich mittreiben, hinfortschwemmen, davonspülen lässt. Er sinniert, was es wohl noch mit sich tragen mag - ob es die Toten an einen besseren Platz führen wird. Die aufgereihten, die strassaufwärts reglos im Regen lagen.
Der fünfte Schlag erschallt, und er verspürt das kalte Metall am Hinterkopf. Starr und unverrückbar drückt es sich durchs regennasse, zerzauste Haar. Der Geruch des letzten Schusses steigt Thomas in die Nase. Das bitterbissige Schwarzpulver - kaum ein Tag der letzten Wochen vergangen, an dem er's nicht gerochen hätt. Seit er sich dem Widerstand angeschlossen hatte - seit er seine Frau und seine beiden Söhne nicht mehr sehn konnt. Seit er sich versteckte und im Untergrund lebte. Seit dem Moment, als er die Faust hob und mit den andern zum Kampf ansagte. Der Partisane faltet die kalten, zitternden Hände vor dem Schoss. Tief geht der Atem. Jeder Zug bewusst und lang - die Luft ein letztes Mal in den Lungen.
Der sechste Schlag lässt ihn die Augen schliessen. Thomas neigt das Haupt. Und harrt dem letzten Schuss den er noch hören würd.
Ein Morgen in Kaltenbrunn
- Jane
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